Auf den ersten Blick ist das ja ein merkwürdiges Wort: Gemeindeentwicklung! Wir kennen das eher so: Aus einer Raupe entwickelt sich ein Schmetterling. Oder: Ein Mitarbeiter in der Firma hat sich gut entwickelt. Früher sprach man von Entwicklungshilfe (heute: Entwicklungszusammenarbeit). In allen Fällen entwickelt sich etwas oder jemand, allenfalls mit etwas Hilfe. Also: Wir entwickeln vielleicht uns, aber doch nicht jemanden.
Wie kann man sagen: Wir entwickeln Gemeinde? Wir werden es gleich sehen! Nur ist Vorsicht geboten: Gemeinde mag sich so oder so entwickeln, aber wir in der Gemeinde haben ja nicht den totalen Zugriff auf diese Entwicklung. Auch nicht als Hauptamtliche und Leitende. Wir helfen vielleicht bei der Entwicklung der Gemeinde. Wir haben sicher Wünsche und Vorstellungen. Wir geben Anstöße. Wir einigen uns auf Maßnahmen. Und dann hoffen wir (und beten), dass sich die Gemeinde gut entwickelt. Dass Menschen sich interessieren und beteiligen. Und wir selbst sind ja Teil dieser sich entwickelnden Gemeinde. Wir sind mitten drin. Und als Christinnen und Christen sagen wir: Wir setzen auf Gottes Geist, sozusagen die entscheidende göttliche Entwicklungspartnerschaft.
Was wäre eine "gute" Entwicklung?
Was wäre eine gute Entwicklung? In der Anglikanischen Kirche in England denkt man hier daran, dass die Gemeinde im Wesentlichen vier wichtige Beziehungen pflegen soll.
- Das ist zuerst die Beziehung ›nach oben‹: Die Gemeinde ist ein Ort, an dem wir Gott suchen, auf ihn hören und ihn anrufen.
- Dann ist da zweitens die Beziehung ›nach innen‹: Gemeinde ist ein Ort von Gemeinschaft. Menschen bleiben nicht allein. Sie finden hier Anschluss, sie helfen einander und wirken gemeinsam in der Gemeinde mit. In St. Matthäus haben wir diesen Aspekt als besonders wichtig erlebt.
- Drittens ist da die Beziehung ›nach außen‹: Das ist ebenfalls bedeutsam, denn die Gemeinde des Jesus von Nazareth kann kein frommer Verein sein, der sich nur um sich selbst dreht und kümmert. Eine Gemeinde, die ihre Botschaft ernst nimmt, wird mit ihrer Umwelt, ihrem ›Sozialraum‹ verwoben sein. Sie wird sich an Bemühungen beteiligen, das Leben der Menschen zu verbessern. Sie wird anpacken, wo Not herrscht. Sie wird die achten und unterstützen, die gerade vergessen, verachtet oder übersehen werden. Und sie wird dabei immer auch von ihrem Ursprung erzählen, von Christus, und einladen, den Glauben an ihn zu teilen.
- Schließlich gibt es viertens die Beziehung ›nach unten‹: Damit ist gemeint, dass jede Gemeinde nicht allein auf der Welt ist. Vor uns haben andere schon an Christus geglaubt, ›neben‹ uns gibt es andere Gemeinden, evangelische, katholische, orthodoxe! Eine vitale Gemeinde pflegt gute Nachbarschaft zu diesen anderen Gemeinschaften.
Wann entwickelt sich also eine Gemeinde gut? Hier wäre die Antwort: wenn sie alle vier Beziehungen pflegt oder wenn sie ›in jeder Beziehung‹ reift und wächst.
Das kann man freilich auch fördern. Als Gemeinde können wir uns fragen: Was ist denn unser Stil, diese oder jene Beziehung zu pflegen? Und was könnten wir tun, um in dieser oder jener Beziehung voranzukommen – uns zu entwickeln? Wo haben wir Stärken und wo gibt es erkennbare ›Wachstumsbereiche‹?
Unsere Gemeinde hat Geschichte
Wenn man sich – mit möglichst vielen aus der Gemeinde – darüber Gedanken macht, fängt man nie bei null an. Entwicklung hat ihre Geschichte. In St. Matthäus kann man Episoden dieser Geschichte gut erkennen: z.B. die starke Orientierung an der Selbsttätigkeit der Gemeinde. Wir verstehen Gemeinde nicht als ›betreutes Wohnen‹ (mit Pfarrpersonen als Betreuern). Es sind die vielen Gaben der Glieder und Gäste, die das Leben der Gemeinde gedeihen lassen. Oder: dass wir, wenn immer es geht, seit ›Corona‹ Gottesdienste auf der Kirchenwiese feiern – und das in vielfältigen Formen, unter Beteiligung vieler, die Freude daran haben, Gottesdienste zu gestalten. Und dass wir immer beim Kirchenkaffee Raum haben um uns kennenzulernen und auszutauschen. Oder: dass uns Kinder und Jugendliche am Herzen liegen. Oder: dass Menschen donnerstags um 3 über wichtige Lebensfragen nachdenken. Oder: dass uns das Ergehen von Menschen, die in unser Land fliehen und Schutz suchen, nicht kalt lässt, ja, wir uns gerufen sehen mitzuwirken, wenn es um menschenwürdige Verhältnisse für sie geht.
Entwicklungsschritte
Und dann gibt es ›Entwicklungsschritte‹. Und damit sind wir wieder am Anfang:
Gemeinden entwickeln sich besser, wenn sie immer wieder darüber nachdenken, welche Beziehungen sie auf welche Weise pflegen und intensiveren wollen.
Sie? Also eigentlich: wir! Gemeindeglieder, Gäste, Mitarbeitende, Junge und Ältere, Aktive und gelegentliche Besucher, Alteingesessene und Neuzugezogene, Überzeugte und Suchende. In St. Matthäus stehen wir immer wieder an solchen Übergängen (z.B. nach Wahlen zum Kirchenvorstand): Viel ist geschehen, Entwicklung hat stattgefunden. Man sieht eine ›Handschrift‹, ahnt einen ›Stil‹, sucht eine ›Richtung‹, wie wir uns verstehen, was uns am Herzen liegt, auf welche Weise wir Dinge tun. Soll es nun genug sein? Oder tun wir weitere Schritte?
- In der Beziehung ›nach oben‹: Wir feiern Gottesdienste gemeinsam, mal traditionell, mal auch unkonventionell. Schält sich so ›unser Stil‹ heraus, mutig, zugänglich, verständlich, mit vielfältigen Talenten und Gaben? Weniger von vorne inszeniert als gemeinsam gefeiert?
- In der Beziehung ›nach innen‹: Wie gestalten wir Gemeinschaft, in der wir (und andere!) willkommen sind mit unseren Stärken – und mit unseren Bedarfen, also: wenn es uns gut geht und wenn es uns nicht so gut geht? Wie nehmen wir als Gemeinde unser Leben und Handeln selbst in die Hand (wenn wir z.B. möglichst alles, was wir tun, in Teams tun!)?
- In der Beziehung ›nach außen‹: Wie können wir für Gaustadt und Bischberg als christliche Gemeinde ein Segen sein (z.B. mit unserem Kindergarten), aber eben auch für Menschen, die Zuflucht und Zukunft bei uns suchen?
- In der Beziehung nach unten: Wie wird unser christliches Zeugnis auch dadurch glaubwürdig, dass wir als Gemeinden in unserer Stadt zusammenstehen und viel deutlicher das Gemeinsame als das Trennende betonen?
Vor diesen Fragen stehen wir gerade auch jetzt, mit einem neuen Kirchenvorstand. Allerdings (Sie ahnen es schon!): Gemeinde entwickelt sich. Und daran haben viele Anteil. Und genau so wollen wir es auch: dass viele mitreden und ihre Ideen einbringen. Genau, wir denken dabei auch: an Sie!
Michael Herbst